Wer schon einmal den „Beipackzettel“ eines Medikamentes durchgelesen hat weiß, die Liste an Nebenwirkungen ist oft lange. Doch was, wenn eine Nebenwirkung auftritt, die nicht aufgelistet ist und auch Ihr Arzt Sie nicht davor gewarnt hat? Wann haben Sie Anspruch auf Schadensersatz und wann ist eine Klage sinnvoll?
Das Arzneimittelgesetz und seine Auswirkungen
Anders als beispielsweise in den USA hört man in den deutschen Medien nur sehr selten von erfolgreichen Schadensersatzklagen gegen Pharmaunternehmen. Der Grund dafür liegt in der deutschen Gesetzgebung, nach der die Kläger einen Nachweis über die Ursache-Wirkungs-Kausalität erbringen müssen. Im Klartext heißt das, dass Sie als Geschädigter zweifelsfrei nachweisen müssen, dass der erlittene Schaden auch tatsächlich auf die Fehlwirkung des Medikamentes zurückzuführen ist.
Da dies nahezu unmöglich ist, wurde das Arzneimittelgesetz im August 2002 neugestaltet und um §84 Absatz 2 AMG ergänzt, welcher unter anderem den Anspruch auf Akteneinsicht festlegt. Kommt es zu einer Klage, kann das Pharmaunternehmen also dazu verpflichtet werden, die eigenen Akten und somit Wissen und Ursachen für Wirkungszusammenhänge kundig zu machen.
Aber Vorsicht: Nach § 84 Absatz 1 AMG ist die Haftung ausgeschlossen, wenn die Arzneimittel bestimmungswidrig gebraucht wurden. Für Sie bedeutet das, dass Sie stets die Fach- und Gebrauchsinformationen (Beipackzettel) lesen und Indikationen, Kontraindikationen, Dosierung, Wechselwirkungen sowie allgemeine Warnhinweise des Medikamentenherstellers beachten sollten. Allerdings kann es sich in diesem Fall um einen Behandlungsfehler handeln, wenn ein Arzt die falschen Medikamente verschrieben bzw. eingesetzt hat.
Wenn Sie nun trotz sachgemäßer Anwendung der Arznei Nebenwirkungen oder Schäden haben, vor welchen nicht oder nicht ausreichend gewarnt wurde, sollten sie die Sachlage von einem fachkundigen Anwalt prüfen lassen.
Das sollten sie unternehmen, wenn Nebenwirkungen eintreten
Wenn Sie deutliche Nebenwirkungen nach der Einnahme von Medikamenten verspüren, sollten Sie stets einen Arzt aufsuchen! Dies ist nicht nur aus Dokumentationsgründen, sondern insbesondere wegen Ihrer gesundheitlichen Verfassung unabdingbar.
Der Arzt sollte dabei eine umfassende Dokumentation der Medikation vornehmen. D.h. der Zeitpunkt der Einnahme, der Eintritt der Nebenwirkungen und insbesondere auch deren Auswirkungen sollten festgehalten werden.
Wie Sie im weiteren Verlauf vorgehen sollten, ist individuell zu bemessen und kaum zu pauschalisieren. Insbesondere bei folgenschweren Nebenwirkungen sollten Sie sich an einen Anwalt wenden, um sich Rat und eine erste Einschätzung Ihres individuellen Falls einzuholen, denn nicht zu klagen ist oftmals der falsche Weg. Außerdem sollten Sie schnell handeln, da auch bei Behandlungsfehlern Verjährung droht.
Auch wenn die Klage gegen die häufig sehr großen Pharmakonzerne zunächst abschreckend wirken mag, ist es sinnvoll, dies dennoch zu tun, denn mit einer guten Dokumentation haben Sie oft die Möglichkeit diese zu gewinnen und mehrere Tausend Euro zu „erstreiten“.
Sollten Sie ein vollkommen falsches Medikament von Ihrem Arzt oder Apotheker verordnet bekommen haben, welches Ihre Gesundheit geschädigt hat, dann informieren Sie sich über die Themen Ärztepfusch, Schmerzensgeldtabelle und Arzthaftungsrecht. Dasselbe gilt, wenn Ihnen Medikamente verschrieben wurden, obwohl Wechselwirkungen bekannt waren.
Bekannte Arzneimittelskandale
Obwohl es immer wieder zu Problemen mit unerwarteten Nebenwirkungen kommt, werden längst nicht alle Arzneimittelskandale medial bekannt gemacht. Hier eine Liste der größten Medikamentenskandale unserer Zeit:
Bayer – Lipobay-Skandal
Mindestens 52 Menschen starben weltweit durch die Einnahme des Medikamentes Lipobay von Bayer. Das cholesterinsenkende Medikament führte teilweise zu Muskelschwäche und akutem Nierenversagen. Bisherige Schadensersatzzahlungen: mehr als eine Milliarde US-Dollar
Bayer – Antibabypille Yasminelle
Aktuell steht die Antibabypille Yasminelle von Bayer im Verdacht eine lebensgefährliche Lungenembolie bei einer 31-jährigen Frau ausgelöst zu haben. Sie fordert 200.000 Euro Schadensersatz.
Baxter – verunreinigtes Heparin aus China
2007/2008 kam es aufgrund von verunreinigtem Heparin (ein Gerinnungshemmer) zu schweren allergischen Reaktionen, welche in den USA mindestens 82 Todesopfer forderten. Untersuchungen ergaben, dass synthetisches Chondroitinsulfat (OCS) beigemischt wurde.
Merck & Co. – Schmerzmittel Vioxx (Rofecoxib)
Das Schmerzmittel Vioxx führt zu einem erhöhten Risiko für Herz-Kreislauferkrankungen, wie etwa Herzinfarkte und Schlaganfälle. Laut der US-Zulassungsbehörde FDA erlitten ca. 139.000 Patienten nach der Behandlung einen Infarkt, der bei rund 55.000 Menschen zum Tode führte.
Finasterid – Haarwuchsmittel
Das Haarwuchsmittel kann zu Depressionen, Impotenz und sexueller Unlust und weiteren Nebenwirkungen führen, die unter dem Namen Post-Finasterid-Syndrom (PFS) zusammengefasst sind. Das Medikament wurde v.a. unter dem Namen Finapil 1mg von Dermapharm vertrieben und als Propecia 1mg von MSD Sharp & Dohme GmbH.
Fentanyl und andere Opiate
Seit den 90er Jahren kommt es v.a. in den USA zu vermehrten Fällen von Abhängigkeit von Opiaten. Diese „Opiat-Krise“ wurde nicht zuletzt dadurch verursacht, dass die Hersteller das Suchtpotential ihrer Medikamente heruntergespielt haben. Wichtige Wirkstoffe bzw. Handelsnamen sind dabei Oxycodon, Oxycontin, Percocet, Hydrocodon, Vicodin und Fentanyl.
GlaxoSmithKline – Diabetes-Medikament Avianda
Eigentlich sollte der Wirkstoff Rosiglitazon bei Diabetes-Patienten vor Herzinfarkten schützen. Das Gegenteil war der Fall.
NDMA-Verunreinigung in Valsartan, Irbesartan und Losartan
Aufgrund von Fehlern bei der Herstellung wurden verschiedene Sartane, die zur Behandlung von Bluthochdruck und Herzinsuffizienz verwendet werden, mit N-Nitrosodimethylamin (NDMA) verunreinigt. NDMA gilt als krebserregend und erbgutschädigend.
Bayer – Leberschäden durch Iberogast
Obwohl bekannt war, dass das Magenmittel Iberogast Leberschäden verursachen kann, hat sich Bayer (bzw. die von Bayer inzwischen aufgekaufte Firma Steigerwald) 10 Jahre lang geweigert, entsprechende Warnhinweise in seine Beipackzettel aufzunehmen. Bisher (Stand: Juli 2019) sind 2 Todesfälle bekannt geworden.
Sanofi – Depakine führt zu Geburtsschäden
Dekapine soll mit dem Wirkstoff Valproat (bzw. Natriumvalproat) bei Epilepsie und bipolaren Störungen helfen. Allerdings erhöht es bei Schwangeren auch das Risiko für Geburtsschäden. Der Dekapine-Hersteller Sanofi soll das seinen Patientinnen verschwiegen und so zu vielen Geburtsschäden beigetragen haben. Im August 2020 wurde bekannt, dass die Ermittlungen auf den Vorwurf der fahrlässigen Tötung erweitert wurden.
Pfizer – Cytotec zur Geburtseinleitung
Der Wirkstoff Misoprostol, der u.a. unter den Namen Cytotec, Cyprostol und Misodel vertrieben wird, ist eigentlich ein Medikament für bestimmte Magen-Darm-Erkrankungen. Cytotec kann aber auch in der Geburtshilfe verwendet werden, um Wehen einzuleiten. Für diese Anwendung ist Cytotec allerdings gar nicht zugelassen, weil es keine Studien zur Wirksamkeit, dafür aber hohe Risiken gibt. Insbesondere scheint es leicht zu Überdosierungen zu kommen, die dann zu „Wehenstürmen“ führen. So wird Cytotec mit Geburtsschäden von Kindern, Verletzungen der Gebärmutter und Todesfällen von Müttern und Kindern in Verbindung gebracht. Viele Ärzte setzen das Cytotec dennoch ein. Eine Motivation kann dabei sein, dass es billiger ist als andere Mittel zur Geburtseinleitung. Pfizer bzw. die Vorgängerfirma Searl hat schon vor 20 Jahren vor einer Anwendung in der Geburtshilfe gewarnt und das Medikament in Deutschland sogar ganz vom Markt genommen, um Missbrauch zu vermeiden.
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